Kulturagentinnen und Kulturagenten Schweiz

Wie können Bildungsinstitutionen sich aktiv einbringen um Chancengleichheit und diskriminierungskritische Schul- und Unterrichtsentwicklung durch das künstlerische Medium der Fotografie zu unterstützen?

Vor einem Jahr im Herbst 2019, hat die HPS Michaelschule eine Weiterbildung zum Thema Sexualität für das gesamte Schulpersonal selbstorganisiert. Teil davon war eine 40minütige Präsentation und Diskussion über Darstellungsweisen von nackten Körpern in den Künsten, beispielsweise anhand von Fotografie. Ein Auslöser dafür war ein Flurgespräch mit dem Schulleiter und drei Lehrpersonen zum Katalog der Ausstellung «Anne Collier – Photographic» des Fotomuseum Winterthur (für den Kulturraum), den ich als Referenzmaterial und Vertiefung für die Oberstufe mitgebracht habe. (Im Mai 2019 haben die Schüler.innen im Rahmen des Kulturagent.innen-Projekts einmalig ein reguläres Vermittlungsangebot zur Ausstellung von Anne Collier mit anderen inhaltlichen Fokussen besucht.) Anhand von Bildanalysen und Appropriationen fotografischer Fundstücke, wie beispielsweise aus Kalendern oder Werbeplakaten aus der Popkultur der 1970er- und der 1980-Jahre, macht Anne Collier auf Sexismus und die Objektivierung von Frauenkörpern, mit dem Ziel Waren wie Fotokameras zu verkaufen, aufmerksam. Die Körperrepräsentationen in diesen Werbeplakaten sowie in anderen aktuellen visuellen Medien, zeigen ein Körper- und Schönheitsideal, dass sich als hegemoniale Attraktivitätsnorm durchgesetzt hat. Als Folge dieser gesellschaftlichen Konstruktion sind die Körper von Menschen, die dieser Norm nicht entsprechen – nämlich ältere Menschen, Menschen, die nach normativen Vorstellungen übergewichtig oder sehr dünn sind, Personen mit Behinderungen, non-binäre und Transmenschen sowie Menschen aus prekären sozialen Schichten, People of Colour (PoC), usw. – nicht oder fast nicht in visuellen Darstellungen vertreten. Bis heute zeigt sich in vielen Werbungen und in den sozialen Medien ein (oft retuschiertes) Körperbild, dass sich stark von der Vielfalt der Körper entfernt. Auf diese Art und Weise werden Menschen aufgrund ihres Aussehens diskriminiert, wie es der Begriff des «Lookism»
(aus dem Englischen «look» (Aussehen) und «-ism», im deutschsprachigen Raum auch «Lookismus») beschreibt. Als «-ismus» wurde «Lookismus» als eine weitere Form der Diskriminierung benannt, welche oft Überschneidungen zu Rassismus, Klassismus und Sexismus aufweist.

Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen – als eine Form der verinnerlichten Diskriminierung – kommt oft zusammen mit anderen Diskriminierungen im Prozess der Identitätskonstruktion bei Jugendlichen vor; dies wurde mir eindrücklich anhand von Gesprächen mit einzelnen Lehrpersonen an der Michaelschule deutlich. Tatsächlich ist die Lebenssituation der Schüler.innen mit besonderen Bedürfnissen und Migrationshintergrund in besonderer Weise von Intersektionalität und somit von mehrfachen Diskriminierungen geprägt.* «Lookismus» ist überall in der Gesellschaft weit verbreitet und seine Wirkung betrifft sowohl wie Menschen wahrgenommen werden als auch ihre Chancengleichheiten in Liebebeziehungen, auf dem Arbeitsmarkt, in einem neoliberalen leistungsorientierten System, usw. Ebendarum entsteht die Notwendigkeit eine kritische Haltung gegenüber der Normierung von Körpern zu aktivieren sowie das Selbstvertrauen und so die Selbstbestimmung der Schüler.innen zu fördern. Dies kann aus meiner Sicht anhand einer nachhaltigen diskriminierungskritischen Schul- und Unterrichtsentwicklung vertieft werden. Hegemoniale Körpernormen und Schönheitsideale in Bildern sollten aus einer repräsentationskritischen Perspektive hinterfragt und verlernt werden, um eine symbolische Darstellung der Körpervielfalt zu verstärken, und deren Akzeptanz und Inklusion ohne Tabus offen auszuhandeln.

Mit diesen Zielen ist eine weitere Kooperation zwischen dem Fotomuseum Winterthur und der Michaelschule im Rahmen des Kulturagent.innen-Projektes entstanden. Es handelt sich um einen – wegen Covid-19 – auf den Frühling 2021 verschobenen Workshop. Fünf verschiedene Klassen der Mittel- und Oberstufe werden sich mit dem Thema Körperbilder und Schönheitsideale bzw. normative Abbildungen in der Werbung und Gegenbilder der Body-Positivity-Bewegung auseinandersetzen. Der Fokus des Workshops liegt auf der Bildanalyse und auf einer praktischen künstlerischen Untersuchung von fotografischen Bildmaterialien aus dem Archiv des Fotomuseums, aus gedruckten Werbebildern und den digitalen sozialen Medien. Die Bilderauswahl und der Inhalt des Workshops wurde in einem intensiven konzeptionellen Vorbereitungsprozess des Projektes mit dem Kulturbeauftragten als Vertreter der Schule, den drei Museumsvermittlerinnen und mit mir besprochen. Verunsicherungen und offene Fragen der beiden Bildungsinstitutionen Schule und Museum (z.B: «Was darf gezeigt werden und was nicht?») sind in dem Austausch aufgetaucht und haben sich gegenseitig beeinflusst. Innerhalb dieses kreisförmigen Prozesses konnte ich zuhören, und wo nötig meine Perspektive und meine Störungsposition einbringen, damit eine Überlegung über die eigene Durchlässigkeit, Wandlungsbereitschaft, Limitationen der beiden Institutionen und über das Spannungsfeld zwischen den, und innerhalb der beiden Bildungsinstitutionen angestossen werden konnte. In diesem Moment habe ich bemerkt, dass eigentlich auch eine Art der «Museumsentwicklung» parallel zur Schulentwicklung, im Sinne einer emanzipatorischen Bildung aktiviert wurde. Die Vermittlungspersonen werden gemeinsam mit den Lehrpersonen der fünf teilnehmenden Klassen über die visuellen Inhalte der Workshops entscheiden. Je nach Lehrpersonen werden die getroffenen Entscheidungen sehr divers sein.
Nach diesen geplanten Workshops werden die entstandenen künstlerischen Prozesse und Erfahrungen gesammelt und reflektiert, und am Schluss in eine «Kulturbox» als didaktisches, künstlerisches Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt. Danach können die Lehrpersonen und Schüler.innen das Material weiterverwenden, es sich aneignen, es weiterentwickeln oder selbst neue Kulturboxen generieren. Angedacht ist, dass der Inhalt der Kulturbox fachübergreifend gestaltet ist und Verbindungen zu anderen Fächern und Themen (Natur Mensch und Gesellschaft, Sexualität, Digitale Medien usw.) aufweist.

Am 29ten Oktober 2020, ungefähr ein Jahr nach der am Anfang dieses Textes beschriebenen Weiterbildung, war ein Input für das Schulpersonal und Lehrpersonen geplant, damit die am Projekt mit dem Fotomuseum nicht teilnehmenden Klassen, etwas mehr über die Chancen einer diskriminierungskritischen Schul- und Unterrichtsentwicklung im Rahmen des Kulturagent.innen Projektes erfahren und diskutieren können. Leider musste es aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden. Ein neues Datum wird gesucht.

* Die Intersektionalitätsforschung bestätigt dass in bestimmten historischen Herrschaftsverhältnissen und (post)migrantischen Gesellschaften, Rassisierung, Klasse, Gender, Behinderung, Sexualität, Gesundheit, geografische Herkunft,… zur Grundlage der Diskriminierungen werden.