Anfänge eines Kulturagenten Überlegungen anhand von Erfahrungen des Aspektwechsels
01. Oktober 2018
von Tom Heinzer
Ich arbeite seit etwa 15 Jahren im Bereich der Bildenden Kunst. Ich habe diese Arbeit immer als Befragung des eigenen Tuns sowie der Beschaffenheit und Möglichkeiten der Kunst verstanden.
Diesen Befragungen ging ich in verschiedenen Zusammenarbeiten nach. Dabei stellte sich zentral die Frage nach geteilter Autorschaft und dem Austausch der Erfahrungen, die in und mit Kunst durchlebt werden. Und ich ging immer davon aus: Kunst ist Kunst und alles Andere ist alles Andere.
Warten, Nichtstun, ein Gespräch führen, Langeweile, Lesen, Reden, Warten, ein Spaziergang durch die Stadt – ein grosser Teil meiner Beschäftigung sind Bewegungen in der ‹Negativform› der Kunst, im ‹Nichtkunstmachen›. Und die feinsäuberliche Aufzeichnung dieser Bewegungen ist ein grosser Teil der Befragung meines Tuns und der Beschaffenheit der Kunst. Ab und an wird eine solche Negativform ausgegossen. Oder sie stülpt sich, im Sinne von Wittgensteins Kippfigur «Hasenente», in eine ‹Positivform›. Für ein solches Momentum ist ein anderer Blick verantwortlich, ein Gegenüber, welches in mir etwas Eigenes als Fremdes erfahrbar macht, in dem es mir diesen Blick eröffnet.
Ich steige an diesem Mittwoch in den Bus zu einem Treffen an einer jener Schulen, welche ich die nächsten vier Jahre bei der Entwicklung eines ‹Kulturfahrplanes› als Kulturagent begleiten werde. Und es ist das erste Mal, dass ich diese Strecke fahre. Ich kenne aber die Erfahrung, dass ich einen mir altbekannten Weg gehe, vom Bahnhof zu mir nach Hause, jedoch in Begleitung einer Person, welche mir wichtig ist und die wiederum diesen Weg zum ersten Mal geht. Und plötzlich leuchtet etwas auf, erscheint eine andere Interpretation der Umgebung, der Situation plausibler – mein ganzes Gesichtsfeld hat sich umorganisiert, eine Gestalt hat sich gewandelt. Ich bewege mich in einem neuen Aspekt der Wegstrecke.
Der Weg vom Bahnhof nach Hause hat für mich nun zwei Gestalten und beide bleiben mir von nun an bewusst. Und ich kann sie sehen. Den Aspektwechsel hingegen, kann ich nicht sehen. Er ist mir vielleicht als Spur in Form eines physischen Ruckelns noch in Erinnerung. Um diese Fähigkeit zum Aspektwechsel zu erfahren, musste ich mich mit dem Objekt beschäftigen. Insofern ist das Erleben des Aspektwechsels einem Tun gleich.
Ich kann von nun an beide Aspekte ‹meiner› Wegstrecke in ein umfassenderes Verstehen dieses dieser Strecke integrieren – was jedoch nie zur Anmassung führen darf, dass ich etwas in seiner tatsächlichen Vielfalt gesehen habe. In dem Moment, in dem ich einen Aspekt erfahre, hat dieser ausschliessliche Gültigkeit. Ich bewege mich in diesem einen Aspekt und erlebe ihn somit nicht als eine Facette der Wegstrecke. Betont wird diese ‹Ausschliesslichkeit› in dem Moment, in dem sich zwei Aspekte zeigen, welche an sich ‹unverträglich› sind.
Ein umfassendes Deuten und Verstehen, welches auf erfahrenen Einsichten in die unterschiedlichen Aspekte einer Sache basiert, welche ich, aufgrund der Unverträglichkeit der Aspekte, nicht gleichzeitig zu sehen im Stande bin, setzt ein integratives Denken und Handeln von meiner Seite voraus. Dieser Form der Differenzproduktion auf der Spur, ist nicht der (Kultur-)Relativismus letzter Begleiter. Vielmehr können oder müssen die sich ausschliessenden Aspekte, in stetiger Uneinigkeit, ein umfassenderes Sehen und Verstehen eröffnen.
Den aktuell geführten Debatten, entweder Kulturkampf oder Kulturrelativismus – die Neue Zürcher Zeitung, welche ich auf dem Weg zur Schule bei mir trage, liefert hierfür im Feuilleton seit einigen Wochen ein Paradebeispiel –, fehlt es an Wille zu integrativem Verstehen. Die Dinge schliessen sich aus. Basta. Hier geht es darum, eine Sichtweise durchzusetzen – Besserwisserei anstelle von Verstehen. Ich schweife ab und doch noch: Ich ärgerte mich die letzten Wochen vermehrt über die Eigenschaft, sich aus Ängstlichkeit von etwas fernzuhalten – der Leiter des Feuilletons der NZZ, René Scheu, trägt diesen Wesenszug sogar in seinem Nachnamen.
Mit diesen Gedanken im Kopf steige ich aus dem Bus. Wie stelle ich mich den Anforderungen als Kulturagent? Werde ich einen bestimmten Platz zugewiesen bekommen? Wann lohnt es sich den Platz einzunehmen und wann nicht? Wie ‹verträglich› soll der zu formulierende Kulturfahrplan mit der Schule sein? Sehe ich sich ausschliessende aber kommunizierende Welten oder passgenau geformte Teile nebeneinander? Welche Bedeutungserlebnisse kann ich gemeinsam mit der Schule erfinden? Was werde ich über die Soziologie des Bildungssystems erfahren? Wie ergeht es mir mit meinem Verständnis der Bildenden Kunst in diesen konkreten Aufgabenfeldern?
Martha Rosler, eine US-Amerikanische Künstlerin und bekennende Marxistin, erwähnte kürzlich in einem Interview in der NZZ ein US-Strategiepapier, welches das National Endowment for the Arts 1997 veröffentlichte, «The American Canvas». Der Inhalt dieses Papiers regle die Übernahme von Sozial- und Öffentlichkeitsarbeit durch die Künste. Schon seit etwa zwanzig Jahren laufe dieses Programm in Amerika und die Regierung habe damals begriffen, dass die Künste mittels sozialer Kunstpraktiken einerseits ein Zugeständnis an die Daseinsberechtigung von Randgemeinschaften liefern, und gleichzeitig die Militanz derer Forderungen nach sozialer Veränderung schwächen. Dies sei Vereinnahmung der Kunst durch den Staat oder durch reiche Stiftungen, wobei niederschwelliges soziales Fehlverhalten verwaltet werden kann, in dem es eine Plattform erhalte.
Die staatliche Förderstelle der Künste in den USA arbeitet demnach mit Aspektmethoden, jedoch mit dem Ziel, einen ihrem Programm entsprechenden Aspekt mit Hilfe der Bildenden Kunst zu etablieren. Bei der Ankunft auf dem Schulgelände bin ich mir zumindest in Einem sicher: Ich werde meine Rolle nicht aus einer ‹Positivform› etablieren. Viel eher entsteht sie aus einer ‹offenen› Summe von ‹negativen› Aspekten. Ich bin gespannt was mich erwartet.